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Wirbelsäulenerkrankungen - Berufskrankheit Nr. 2108

Medizinisch-rechtliche Fragen
aus Sicht des Staatlichen Gewerbearztes

Dr. med. M. Hicke
LfAS

Vortrag zur Arbeitstagung "Berufskrankheiten"
des BAGUV am 8. November 1996

Keywords:

Definition der arbeitsbedingten Erkrankungen
Definition der Einwirkungskriterien - Urteil BSG
Belastungsanalyse des TAD
Beanspruchungsanalyse des Arztes
Segmentale Verteilung der Erkrankung
Kriterien zur Belastungsbeurteilung
Wert von Fragebogenstudien
Porterstudie
Untersuchungen von Morlock
Zwischenzusammenfassung
Die besondere Problematik der Pflegeberufe
Pflegeberufe-Zusammenfassung
Zusammenhangsfrage - Diskussion der gegenwärtigen Positionen
Wirbelsäulenerkrankungen als Volkskrankheit

 

Den folgenden Ausführungen ist vorauszuschicken, daß sie keine offizielle Meinung des gewerbeärztlichen Dienstes oder des Geschäftsbereiches des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung darstellen. Es handelt sich um persönliche Überlegungen, die aus der Praxis und im Dialog mit Kollegen entstanden sind.

Zum Tenor des Vortrages habe ich folgenden Untertitel hinzugefügt:

"Erkrankungen der Wirbelsäule: Berufskrankheit, arbeitsbedingte Erkrankung, Volkskrankheit ?

oder:

Ist es an der Zeit das Merkblatt 2108 weiterzuentwickeln ?"

 

Gestatten Sie mir eine grundsätzliche Vorbemerkung:

Die Neukodifizierung des Sozialgesetzbuches und das neue Arbeitsschutzgesetz stellen markante Punkte in der rechtlichen Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes in Deutschland dar. Die bisherigen Aufgaben des Staates und der Unfallversicherungsträger wurden zur Umsetzung der EG-Rahmenrichtlinie zwar in den wesentlichen Punkten beibehalten, jedoch in einigen Aspekten modifizier und erweitert. Das BK-Verfahren wird hierbei eine zusätzliche Bedeutung erlangen.

Besonders bedeutsam und in der ganzen Tragweite vielleicht noch gar nicht bewußt wahrgenommen, scheint mir die neue Verpflichtung der Unfallversicherungsträger, nicht nur Berufskrankheiten, sondern auch arbeitsbedingte Erkrankungen zu verhindern. Damit bleibt zwar das Entschädigungsverfahren im Rahmen der bisherigen Regelung; die präventiven Aufgaben gehen jedoch weit über den bisherigen § 3 der Berufskrankheitenverordnung hinaus.

Die begrifflich-rechtliche Abgrenzung der arbeitsbedingten Erkrankungen von den Berufskrankheiten wurde von vielen bislang nicht allzu ernst genommen, ja es gab auch in den eigenen Reihen Kollegen, die überhaupt keinen wesentlichen Unterschied erkennen mochten. Dies wird sich wohl bald unter dem Druck der finanziellen Konsequenzen ändern.

Was hat diese Einlassung mit der speziellen Problematik der BK 2108 zu tun ?

Der Grund ist, daß diese noch relativ junge BK in typischer Weise für die Abgrenzungsschwierigkeit der arbeitsbedingte Erkrankung von der Berufskrankheit steht; vergleichbar auch mit einigen anderen Berufskrankheiten (z.B. obstruktive Atemwegserkrankungen, Haut, etc.).

Während sich die gesetzliche Krankenversicherung entsprechend dem Finalitätsprinzip nicht primär um das ‘Warum’ kümmern muß, wird für die gesetzliche Unfallversicherung die Frage der Kausalität bei Körperschäden, die Berufskrankheit wie auch Volkskrankheit sein können, zu einem immer aufwendiger zu bewältigenden Problem, das erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen beansprucht. Und um eine Volkskrankheit handelt es sich bei bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS ohne jeden Zweifel angesichts der Tatsache, daß hiervon mehr als 70 % der Gesamtbevölkerung in mehr oder weniger starkem Umfang betroffen sind.

Dies Frage lautet also: Wann ist eine Erkrankung der Wirbelsäule schicksalhaft und oder zivilisationsbedingt, wann ist sie arbeitsbedingt, und wann ist sie eine Berufskrankheit ?

Die Antwort definiert den zuständigen Kostenträger.

Gelingt es in der Zukunft nicht mehr, hier eine handhabbare Unterscheidung zu treffen, steht langfristig die derzeitige Gliederung des Sozialversicherungssystems zur Disposition.

 

Lassen Sie mich also zunächst aus allgemeinen, aber wie Sie sehen werden auch aus speziellen Gründen eine Definition der arbeitsbedingten Erkrankung vorlegen.

Der Begriff an sich ist ja nicht Neues: Im § 3 des Arbeitssicherheitsgesetztes (ASiG ) normiert er seit langem die präventive Aufgabe des Betriebsarztes.

Hier die Definition nach dem Sozialrechtler Hennies:

"Arbeitsbedingte Erkrankungen sind alle Erkrankungen, deren Auftreten mit der Arbeitstätigkeit in Verbindung steht - ohne daß hierbei eine bestimmte rechtliche Qualität erreicht werden muß. Die Verbindung muß nicht ursächlich im Rechtsinne sein."

Weiter führt Hennies aus:

"Als arbeitsbedingte Erkrankungen sind alle Krankheiten aufzufassen, deren Auftreten mit der Arbeitstätigkeit in Verbindung steht. Im Gegensatz zu Berufskrankheiten muß der Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit keine bestimmte rechtliche Qualität erreichen.

Eine arbeitsbedingte Erkrankung ist bereits dann anzunehmen, wenn bestimmte Arbeitsverfahren, Arbeitsumstände oder die Verhältnisse des Arbeitsplatzes das Auftreten einer Gesundheitsstörung begünstigt oder gefördert haben. Die Tatsache, daß eine individuelle körperliche Disposition, altersbedingte Aufbrauchserscheinungen oder außerberufliche Ursachen im Vordergrund stehen und gleichartig beschäftigte Arbeitnehmer daher nicht erkrankt wären, schließt die Annahme einer arbeitsbedingten Erkrankung nicht aus.

Diese Definition stellt bewußt nicht auf ursächliche Zusammenhänge im Rechtsinne ab.

Als der Gesetzgeber den Begriff der "arbeitsbedingten Erkrankungen" in das Arbeitssicherheitsgesetz aufnahm, hat er ihm - anders als dem der Berufskrankheit -

keine entschädigungsrechtliche Bedeutung beigelegt, ihn demnach auch nicht zum Tatbestandsmerkmal für Leistungsansprüche der Arbeitnehmer gemacht.

Das Arbeitsschutzrecht ist anderweit zielgerichtet auf betriebliche Prävention.

Es beschränkt sich nicht nur auf die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, sondern setzt sich die weiterreichenden Ziele, Arbeitsbedingungen gesundheitsgerecht und Arbeit menschengerecht zu gestalten."

 

Folgt man dieser Definition konsequent, bedeutet dies faktisch die partielle Einführung des Finalitätsprinzips in die gesetzliche Unfallversicherung, wenn auch beschränkt auf die Präventionsleistungen.


Zurück zur BK 2108. Die Kritik insbesondere an der unbestimmten Definition der Einwirkungskriterien hat seit Einführung der BK nicht abgenommen; ein vorläufiger Höhepunkt war das Revisionsbegehren einer Berufsgenossenschaft zur Behandlung durch das Bundessozialgericht.

Hierbei wurde unter anderem die Rechtmäßigkeit der BK an sich bestritten.

Das BSG mochte jedoch nicht soweit gehen und führte aus, daß die Auslegungsbedürftigkeit einer gesetzlichen Regelung noch nicht die rechtsstaatlich gebotene Bestimmtheit nimmt; diese halte sich noch im verfassungsrechtlich gebotenen Rahmen...auch andere Berufskrankheiten verwendeten auslegungsbedürftige und auslegungsfähige Begriffe.

Gleichzeitig wies das BSG allerdings auch auf ein Licht am Ende des Tunnels hin: "...schließlich ist es Aufgabe des Verordnungsgebers, nach einer entsprechenden Erfahrungszeit zu prüfen, ob nach den gesammelten Erkenntnissen eine Konkretisierung, Einschränkung, Auswertung oder Klarstellung der Fassung der BK Nr. 2108 notwendig ist oder wenigstens angezeigt erscheint..."

Ist diese Zeit gekommen ? Wenn ja, wo ist der Ansatzpunkt ?

Versuchen wir uns einer Antwort zu nähern, indem wir dem rechtlich-organisatorischen Algorithmus des Feststellungsverfahrens aus der arbeitswissenschaftlichen Perspektive folgen.

Der Belastungsanalyse des TAD steht hierbei zunächst getrennt die Beanspruchungsanalyse des beratenden Arztes gegenüber.

Beide haben eine Doppelaufgabe: Zunächst sind lediglich objektive Tatbestände, also die technische Belastungsermittlung auf der einen Seite und die Beanspruchungsermittlung auf der medizinischen Seite zu erfassen und zu dokumentieren. Erst im zweiten Schritt erfolgt die Beurteilung: Erlangen die festgestellten Sachverhalte eine rechtliche Qualität - d.h.: werden die anspruchsbegründenden Voraussetzungen erfüllt ?

Bereits hier liegt das zentrale Problem des Verfahrens, nicht erst auf der Ebene der Zusammenhangsfrage. Dies weniger für die Frage der medizinischen, als vielmehr für die Frage der beruflichen Voraussetzungen. Der orthopädisch-chirurgische Mediziner besitzt ein bewährtes und umfangreiches diagnostisches Instrumentarium einschließlich erprobter diagnostischer und differentialdiagnostischer Beurteilungskriterien zur Beantwortung der Frage, ob eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule vorliegt oder nicht.

Der notwendige diagnostische Aufwand mag von Fall zu Fall differieren, sollte aber immer der Maxime folgen: soviel wie (diagnostisch-rechtlich) nötig, so wenig wie (zur Schonung des Antragstellers) möglich. Ich kann hier aus der bisherigen Praxis keine grundsätzlichen Probleme erkennen. Dies allerdings nur dann, wenn sich der beratende Arzt in Verkennung seiner Aufgaben nicht selbst ein Bein stellt und unzulässigerweise die bekannte divergente Diskussion des segmentalen Befalles bereits an dieser Stelle statt bei der Zusammenhangsfrage diskutiert. Es besteht mittlerweile die weitgehend übereinstimmende Auffassung, daß zur Beurteilung der medizinischen Voraussetzungen die segmentale Verteilung der Erkrankung unerheblich ist.

Das Thema des segmentalen Befalles muß allerdings im Rahmen der Zusammenhangsfrage nochmals aufgegriffen werden.

 

Zunächst aber von diesem Scheinproblem weg zu einem wirklichen Problem: der Ermittlung und Beurteilung der beruflichen Voraussetzungen. Dies hat jedoch nicht der Mediziner, sondern der TAD. Lange Zeit verkannt, fehlen diesem nämlich nahezu alle Grundlagen einer soliden Belastungsanalyse. Es gibt weder allgemein anerkannte (und zugleich in der Praxis handhabbare !) Verfahren zur Belastungsermittlung, noch klare Kriterien zur Belastungsbeurteilung. So wie in der Medizin eine Vielzahl von therapeutischen Verfahren für den gleichen Zweck ein untrügliches Zeichen für die mangelnde Qualität aller dieser Verfahren ist, trifft dies auch für die mittlerweile 21 Verfahren in der Ermittlung der Wirbelsäulenbelastung zu.

Entweder sind diese zwar sehr "sophisticated", wie z.B. das NIOSH-Verfahren - aber unbrauchbar in der täglichen Ermittlungspraxis, oder sie sind zwar mit der Erfassung von 2 bis 3 Parametern handhabbar, aber biomechanisch nicht ausreichend aussagekräftig.

Hinzu kommt, daß individuelle biomechanische Belastungsermittlungen ohnehin nur für Berufe mit gleichförmigem Tätigkeitsprofil in Frage kommen: für Pflegeberufe, Bauhof- und Forstarbeiter also gerade nicht.

Die Erfahrung der letzten zwei Jahre hat gezeigt, daß hier Verfahren geeigneter sind, die standardisierbare und objektivierbare Rahmenbedingungen des Arbeitsplatzes ermitteln. Dies setzt allerdings für diese Rahmenbedingungen epidemiologisch validierte biomechanische Untersuchungen voraus - und diese fehlen derzeit noch. Die Beurteilung der Rahmenbedingungen hängt somit noch weitgehend im luftleeren Raum. Dennoch halte ich dieses Verfahren langfristig für eine geeignete Methode bei Arbeitsplätzen mit multiplem Tätigkeitsprofil. Dieser Weg wird in Bayern vom GUV/StAfU in Abstimmung mit dem Arbeitsministerium und den Gewerbeärzten bereits seit längerem beschritten. In ähnlicher Weise verfährt übrigens auch die Landwirtschafts-BG.

 

 

Da die Definition der Einwirkungskriterien für die Beurteilung der haftungsbegründenden Voraussetzungen unscharf ist, wird meist auf die im Merkblatt zitierten Studien zurückgegriffen.

Nun gerät man allerdings vom Regen in die Traufe. Denn aus Fragebogenstudien mittels Selbsteinschätzung abgeleitete Zeitwerte für die Beurteilung der Belastungsdauer sind bei Berufen mit multiplem Tätigkeitsprofil im Sinne unserer Fragestellung wertlos (s. die im Merkblatt zitierte Videmanstudie). Die in Bayern anfangs in ähnlicher Weise vorgenommenen Fragebogenerhebungen wurden wegen vollständiger Unbrauchbarkeit wieder aufgegeben und führten letztlich zu dem vorhin genannten Verfahren der Prüfung der Rahmenbedingungen.

Venning zeigte, daß anamnestische Fragen nach Rückenbeschwerden bereits nach 6 Monaten bei 16 % der Befragten völlig anders beantwortet werden.

Bemerkenswert an der vielzitierten Videmann-Studie ist übrigens, daß zwar (erwartungsgemäß) über alle Altersgruppen hinweg Lumbalbeschwerden (welcher Ursache auch immer) mit steigender Belastung häufiger auftraten, ischialgiformer Schmerz als typischer Ausdruck einer "echten" bandscheibenbedingten Erkrankung (entgegen der Erwartung !) seltener angegeben wird. Somit belegt diese Studie eher das Gegenteil dessen, zu dem sie zitiert wurde. In Anbetracht der gravierenden methodischen Mängel belegt diese Studie aber letztlich gar nichts.

 

In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen eine im Merkblatt nicht zitierte Studie von Porter nicht vorenthalten, die zwar an englischen Bergarbeitern und nicht an skandinavischen Krankenschwestern durchgeführt wurde, die aber den Vorteil aufweist, daß die Betroffenen sich nicht selbst diagnostiziert haben, sondern nach allen Regeln der Kunst einschließlich Kernspintomographie untersucht wurden.

Die untersuchten Kollektive waren mehr als zehnmal so groß und es wurden nicht Pflegeberufe untereinander verglichen (Videmann), sondern der Vergleich mit der Normalbevölkerung gezogen. Allerdings ist der Titel der Studie provokant. Dieser lautet: "Does hard work prevent disc protrusion ?"

Nichtsdestoweniger kommt die Studie zu interessanten und differenzierten Ergebnissen.

Die Autoren beobachteten:

Bergarbeiter suchten statistisch signifikant häufiger eine orthopädische Klinik wegen lumbaler Rückenschmerzen (lumbar back pain, LBP) auf

Bergarbeiter litten statistisch signifikant häufiger an Schmerzsymptomen durch degenerative Veränderungen des Lateral- und Zentralkanals

Bergarbeiter hatten ein statistisch signifikant geringeres Risiko eine behandlungsbedürftige Bandscheibenprotrusion (Prolaps) zu erleiden

 

Hieraus ziehen die Autoren u.a. folgende Schlüsse:

"... entweder haben die Bergarbeiter weniger anuläre Schäden wegen ihrer starken Muskulatur und wirksamen Schutzreflexen oder sie neigen zwar in gleicher Weise zu einem Diskusfaserring-Riß, sind aber in der Lage, diesen wirksamer abzuhalten. Schwere manuelle Arbeit im frühen Leben stärkt möglicherweise die spinalen Ligamente und eventuell den peripheren Anulus und hält so den Bandscheibenkern davon ab, in den Spinalkanal vorzudringen. Eine ähnliche Protrusion kann bei einem Sitzarbeiter in den Vertebralkanal vordringen, weil dieser einen schwachen peripheren Faserring besitzt..."

Diese Überlegungen von Porter werden übrigens auch durch Studien von Owen und Granhed gestützt, auf die ich im Zeitrahmen dieses Vortrages nicht eingehen kann.

In die gleiche Richtung weisen auch aktuelle biomechanische Untersuchungen an Krankenschwestern der Gruppe um Morlock, Hamburg, der nach ersten Zwischenergebnissen folgendes diskutiert:

"... Belastung wird im Zusammenhang mit der Diskussion um die Begutachtung von Anträgen auf Berufskrankheit gemäß BK 2108 meist in einem negativen Licht dargestellt...Diese Diskussion könnte man jedoch auch unter umgekehrten Gesichtspunkten führen: eine physiologische Struktur, die über Jahre hinweg konstant trainiert und belastet wurde, ist in der Lage, höhere Belastungen ohne Schädigungen zu ertragen als eine untrainierte Struktur."

Als weiteres Ergebnis zeigte sich, daß die muskuläre Leistungsfähigkeit das deutlichste Trennkriterium zwischen erkrankten und nicht erkrankten Krankenschwestern-Kollektiven war. Zitat:

"...Zusammenfassend könnte also spekuliert werden, daß LWS - Probleme eher durch Unterbelastung als durch Überbelastung entstehen..."

So betrachtet gewinnt das klassische arbeitsmedizinische Belastungs - Beanspruchungs - Konzept wieder die ihm zustehende Bedeutung: der Zustand des Individuums ist - innerhalb vernünftiger Grenzen - genauso bedeutsam wie die Belastung. Diese ist "wertneutral". Erst die Beanspruchungsreaktion kann als erwünscht oder pathologisch eingestuft werden.

Der Zustand eines Individuums ist aber jenseits der anlagebedingten Konstitution in der Arbeit wie im Sport beeinflußbar ( trainierbar) - mit den entsprechenden Konsequenzen für die Prävention.

Eine versicherungsrechtlich "negative" Bedeutung erlangt eine bestimmte Belastungstärke erst durch den entsprechenden epidemiologisch-kausalen Nachweis einer besonderen Gefährdung bestimmter Personengruppen.

 

Zurück von den neueren Erkenntnissen zu der gegenwärtigen Praxis.

Zwangsläufige Folge der unbestimmten Einwirkungskriterien wie des Überangebotes an unbefriedigenden und unpraktikablen wissenschaftlichen Berechnungs- und Beurteilungsverfahren sind von Unfallversicherungsträger zu Unfallversicherungsträger höchst unterschiedliche Vorgehensweisen und Bewertungsmaßstäbe. Der kontroversen Literatur entsprechend divergieren die Anforderungen an die beruflichen Voraussetzungen beträchtlich. Eine Rechtsgleichheit im Verfahren ist somit bereits auf der Stufe der haftungsbegründenden Voraussetzungen nicht gegeben. An diesem Zustand wird sich erst dann Substantielles ändern, wenn ausreichende epidemiologisch und biomechanisch abgesicherte Studien vorliegen, die die Bildung einer fundierten wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung ermöglichen.

 

Die aktuelle Situation der beruflichen Ermittlung fiktiv auf die BK "Lärm" übertragen würde bedeuten:

Jeder Unfallversicherungsträger mißt den Lärm mit einem anderem Meßinstrument nach einem unterschiedlichen, nicht validierten Meßverfahren ohne die Meßungenauigkeit auch nur angeben zu können. Ob und wieviel und welche Art von Lärm bei bestimmten Berufsgruppen einen Schaden auslöst ist wissenschaftlich umstritten. Demzufolge fordern manche Unfallversicherungsträger 70, manche 110 dB. Einige ersetzen die meßtechnische Ermittlung und die Beurteilungskriterien durch das eigene Ohr mit der Feststellung: "nach Meinung des TAD hat am Arbeitsplatz gesundheitsgefährdender Lärm geherrscht."

 

Zur Problematik der arbeitstechnischen Beurteilung darf ich also zusammenfassen:

Die im Merkblatt zitierten Studien belegen zwar hinreichend, daß Beschwerden und Erkrankungen der LWS bei bestimmten Berufsgruppen arbeitsbedingt häufiger auftreten,

nicht aber, daß sie durch die Arbeit im sozialrechtlichen Sinne der wesentlichen Bedingung verursacht wurden (Dies gilt inbesondere für die Pflegeberufe).

Die unscharf definierten Beurteilungskriterien des Merkblattes (keine Grenzwerte, Formulierungen wie "gewisse Regelmäßigkeit und Häufigkeit") sowie die hierin zitierten Studien ermöglichen bislang keine ausreichende Rechtsgleichheit im Feststellungsverfahren der verschiedenen UV-Träger


Nun einige Gedanken speziell zu den Pflegeberufen im Feststellungsverfahren. Betrachtet man die übrigen im Merkblatt beispielhaft aufgeführten Berufe, so fällt auf, daß die Pflegeberufe hier eine (nicht beabsichtigte ?) Sonderstellung einnehmen.

Folgende Merkmale unterscheiden die in Pflegeberufen Tätigen von den anderen im Merkblatt aufgeführten Berufsgruppen (Maurer, Steinsetzer, Schauerleute, Lastenträger, Landwirte u.a.):

Die Pflegeberufe sind keine Schwerarbeiterberufe im klassischen arbeitsmedizinischen Sinne (Maximal- u. Ausdauerkrafteinsatz, Energieumsatz, Sauerstoffverbrauch etc.)

Die Ausprägung ihrer Muskulatur entspricht der Normalbevölkerung

Überwiegender Frauenberuf

Die kumulierte biomechanische Einwirkdosis auf die LWS liegt um Größenordnungen niedriger

dennoch:

Die Beschwerdeprävalenz der Pflegeberufe, liegt eher höher als bei den industriell-gewerblichen Berufsgruppen

Lassen Sich mich zur Erklärung dieser Phänomene folgende Thesen aufstellen:

1) Der "Healthy worker effect" ist bei den Pflegeberufen geringer, denn

Die Pflegeberufe werden auch von konstitutionell schwächeren Personen ergriffen

Die Pflegeberufe verursachen auch bei konstitutionell schwächeren Personen seltener eine vorzeitige Berufsaufgabe. Die konstitutionell bedingte Selektion ist geringer.

2) Spezifischer Einwirkungsmechanismus bei den Pflegeberufen

Berufsspezifisch ist nicht eine Kompressions-Dauerbelastung über Jahre (und damit hohe, kumulierte biomechanische Einwirkungsdosen), sondern es treten wiederholte kurzfristige Spitzenbelastungen meist in ergonomisch ungünstiger Haltung auf.

3) Anderer Pathomechanismus bei den Pflegeberufen:

Nicht eine chronisch-degenerative Erkrankung infolge langjähriger Dauerbelastung mit Überbeanspruchung (vgl. Merkblatt 2108, Abschnitt II., Pathophysiologie), sondern wiederholte Verletzungen durch plötzliche Einwirkungen im Sinne von multiplen Verhebetraumata sind als typischer Pathomechanismus anzusehen.

 

Im Merkblatt 2108 wird ausgeführt:

"... da die blutgefäßlosen Bandscheiben hinsichtlich ihrer Ernährung besonders von den Diffusionswegen abhängen, sind sie für mechanische Dauerbelastungen sehr anfällig. Anhaltende Kompressionsbelastung reduziert die druckabhängigen Flüssigkeitsverschiebungen und beeinträchtigt damit den Stoffwechsel im Bandscheibengewebe."

Unter einer bandscheibenbedingten Erkrankung durch langjähriges schweres Heben oder Tragen ist somit nach dem Merkblatt zu verstehen:

Eine durch mehrjährige Über- und Fehlbeanspruchung im Sinne einer Dauerbelastung hervorgerufene degenerative Erkrankung des Bandscheibengewebes infolge schweren Heben und Tragens.

Unter einer Verletzung der Bandscheiben durch ein Verhebetrauma ist dagegen zu verstehen:

Eine durch plötzliche Krafteinwirkung beim Heben entstandene Verletzung (injury) des Achsenskelettes, bzw. des Bandscheibengewebes.

Zusammenfassend handelt es sich also bei den Pflegeberufen um eine ergonomisch ungünstige Tätigkeit mit relativ hohem Verletzungsrisiko, das nicht zuletzt deshalb so hoch ist, als es sich arbeitsmedizinisch gerade nicht um Schwer-, sondern um (allerdings gefährliche) Leichtarbeit handelt und somit kein protektiver Muskelschutz aufgebaut wird.

Gesetzt den Fall, man folgt diesen Thesen, ergeben sich folgende Schlußfolgerungen:

Medizinische Schlußfolgerungen:

Ursache der hohen Beschwerdeprävalenz bei Pflegeberufen ist nicht primär schweres Heben und Tragen im Sinne von Schwerarbeitern und Lastenträgern, sondern:

Multiple Verhebetraumata infolge ungünstiger ergonomischer Arbeitsbedingungen

Geringe konstitutionell bedingte Selektion vor und nach Berufsaufnahme

Mangelnder Muskel- und Ligamentschutz, da kein Trainingseffekt durch ungeeignete Belastung

Ermittlungstechnische Schlußfolgerungen:

Die bei klassischen Lastenträgern sinnvolle Ermittlung von kumulierten Belastungsdosen greift bei den Pflegeberufen nicht, da hier nicht Dauerbeanspruchungen, sondern stochastisch auftretende Verletzungen unterschiedlichen Ausmaßes den typischen Schadensmechanismus darstellen.

Rechtliche Schlußfolgerungen:

Die Zusammenfassung nicht vergleichbarer heterogener Belastungs- und Beanspruchungsprofile in der BK 2108 ist eine der zentralen Ursachen für die Schwierigkeiten in der Beurteilung der arbeitstechnischen Voraussetzungen als auch in der Zusammenhangsfrage selbst.

Die Pflegeberufe dürften unter Beibehaltung der bisher im Merkblatt genannten Einwirkungsbedingungen und Pathomechanismen nicht beispielhaft aufgeführt werden, da den gehäuft beobachteten Beschwerden und Erkrankungen primär andere Einwirkungs- und Pathomechanismen zugrunde liegen.

Die typischen Einwirkungsprofile bei den Pflegeberufen erfüllen unter konsequenter Anwendung der im Merkblatt aufgeführten Beurteilungskriterien nicht die erforderlichen arbeitstechnischen Voraussetzungen und damit die Erkrankungen nicht die rechtliche Qualität einer Berufskrankheit, sondern lediglich einer arbeitsbedingten Erkrankung.

Dennoch sind die Pflegeberufe -unzutreffenderweise - beispielhaft aufgeführt.

Der gegenwärtige Widerspruch kann nur behoben werden, wenn entweder im Merkblatt die zutreffenden zusätzlichen Einwirkungskriterien und Pathomechanismen versicherungsrechtlich definiert werden, oder aber die Pflegeberufe nicht mehr beispielhaft aufgeführt werden.

In der Diktion eines Merkblattes formuliert könnten zur Verdeutlichung die Belastungen und Beanspruchungen der Pflegeberufe und vergleichbarer Tätigkeiten etwa folgendermaßen definiert werden:

"Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch mehrfache Verhebetraumata unter ungünstigen ergonomischen Arbeitsbedingungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können".

Der damit eingeführte unbestimmte Begriff der "ungünstigen ergonomischen Arbeitsbedingungen" müßte natürlich handhabbar definiert werden, z.B.:

Unter ungünstigen ergonomischen Bedingungen

ist zu verstehen:

Handhabung von Lasten mit einem erzwungenen Rumpfbeugewinkel > 30°

Handhabung von Lasten unter erzwungener Torsion, Rumpfseitneigung, Akzelaration oder Dezelaration

Handhabung von Lasten mit schlechtem Kraftschluß

Handhabung von lebenden Lasten

 

Unter Lasten sind Massen > 10 % des eigenen Körpergewichtes zu verstehen


Lassen Sie mich nun einige Anmerkungen zur Zusammenhangsfrage machen.

Kernproblem der Zusammenhangsfrage ist, daß bislang diagnostisch kein eindeutiges berufsspezifisches Schadensbild abgegrenzt werden konnte. Die degenerativen Verschleißprozesse laufen an der Wirbelsäule unabhängig von der Art der Einwirkung relativ gleichförmig ab. Der Gutachter ist somit nach Ausschluß der Differentialdiagnosen auf Hilfskriterien angewiesen. Hierzu wird derzeit meist die Überschreitung des alterstypischen Befundes und die sogenannte Theorie des monosegmentalen Befalles herangezogen.

Dem ersten Kriterium fehlt eine klare Definition: es bleibt der Subjektivität des Gutachters überlassen; das letztere ist überhaupt umstritten.

Folgende Positionen werden aktuell vertreten:

1. These:

Ein monosegmentaler Befall spricht gegen eine Kausalitätsbeziehung, da die Einwirkung die gesamte Wirbelsäule belastet und Beanspruchungsreaktionen daher auch an anderen Segmenten wirksam und röntgenologisch sichtbar werden müssen.

Ein monosegmentaler Befall, der zu 95 % auch in der unbelasteten Normalbevölkerung auftritt, spricht daher für eine schicksalhafte Erkrankung.

Für eine Kausalitätsbeziehung spricht dagegen ein mehrsegmentaler Befund mit einer von oben nach unten abnehmenden Quantität (Schröter)

Ein globaler, gleichförmiger, mehrsegmentaler Verschleißschaden spricht hingegen für eine schicksalhafte "rheumatische" Genese

 

2. Anti-These:

Bei schwerem Heben und Tragen werden gerade die unteren beiden Lendenbandscheiben am meisten belastet.

Diese können nicht deshalb aus der BK ausgeklammert werden, nur weil sie auch sonst bevorzugt verschleißen.

 

Erlauben Sie mir den Versuch einer "Synthese" zu machen:

3. Synthese:

Sowohl These wie Antithese sind richtig und falsch zugleich. Es kommt auf die Art der Anwendung an

Erläuterung:

Die These des monosegmentalen Befalles (als Ablehnungsgrund) ist bereits aus formalen Gründen falsch, wenn mit ihrer Hilfe die haftungsbegründenden Voraussetzungen abgelehnt werden. Nicht der Gutachter, sondern der Verordnungsgeber definiert die Versicherungsbedingungen. Dieser hat keine diesbezügliche Einschränkung gemacht.

Die These des monosegmentalen Befalles (als Ablehnungsgrund) kann (muß aber nicht) als inhaltlich schlüssig bewertet werden, wenn sie als Bewertungskriterium der haftungsausfüllenden Kausalität herangezogen wird.

Die Antithese des monosegmentalen Befalles (keine Ablehnung) ist formal richtig, soweit sie sich auf die Prüfung der haftungsbegründenden Voraussetzungen bezieht.

Die Antithese des monosegmentalen Befalles (keine Ablehnung) kann zu inhaltlich unschlüssigen Ergebnissen führen, wenn die Tatsache der Erkrankung an sich bereits die haftungsausfüllende Kausalität belegen soll, da dann das die Kausalität herstellende Verbindungsglied fehlt.

Festzuhalten ist, daß die These des monosegmentalen Befalles auch bei formal korrekter Anwendung durch den Gutachter zunächst eine These bleibt: zumindest solange, bis die sie abstützenden Studien vorliegen.

Nun noch ein Wort zur Prävention.

Wenn der weit überproportionale Aufwand, der allen Verfahrensbeteiligten durch diese neue Berufskrankheit entstanden ist, einen Sinn haben wird, ist dieser m.E. weniger im entschädigungsrechlichen Bereich als vielmehr im präventiven Bereich zu sehen. So unzulänglich die Formulierungen des Merkblattes seien mögen; sie geben den Stand des damaligen Wissens wieder. Die jetzt quasi erzwungene Ursachenforschung wird - möglicherweise - zur nachträglich einwandfreien Rechtfertigung der BK führen. Derzeit noch laufende Studien lassen jedoch bereits erkennen, daß wohl an einer Anpassung des Merkblattes - wie vom BSG angedeutet - kein Weg vorbeiführen wird. Vor allem aber werden die gewonnen Erkenntnisse aus der Ursachenforschung positive Konsequenzen für die Prävention haben.

 

Folgende Aspekte zeichnen sich m.E. ab:

  1. Die verstärkte Bedeutung der ergonomischen Rahmenbedingungen
  2. Die verstärkte Bedeutung der ergonomischen Arbeitstechnik
  3. Die verstärkte Bedeutung der individuellen anlagebedingten Konstitution
  4. Die verstärkte Bedeutung des individuellen muskulären Trainingszustandes
  5. Die abgeschwächte Bedeutung der absoluten Belastung (Masse, Frequenz, Dosis, etc.)

Es sei die Prognose gewagt, daß absolute Lastgrenzwerte auf die ihnen zukommende geringe Bedeutung schrumpfen werden. Sie taugen allenfalls als statistische Risikobeschreibungen und Richtwerte; für die Beschreibung des konkreten individuellen Risikos sind sie wenig hilfreich. Dies gilt für die Prävention wie für retrospektive Kausalitätsbetrachtungen.

An Bedeutung gewinnen wird hingegen eine ganzheitliche Betrachtungsweise.

In diesem Sinne möchte ich mit einigen Statements modifiziert nach Diebschlag schließen:

Wirbelsäulenerkrankungen als Volkskrankheit: